Traumatisierung im Kontext von Fluchterfahrungen bei Kindern in der Grundschule
Ende 2020 waren weltweit mehr als 80 Millionen Menschen auf der Flucht. Allein 2021 mussten hunderttausende Menschen, davon 21% Frauen und 58% Kinder, aus Afghanistan vor den Taliban fliehen und 2022 leidet die ukrainische Bevölkerung unter der Invasion Russlands. Der UNHCR geht allein von mindestens vier Millionen ukrainischen Flüchtenden aus, wobei die Hälfte Kinder sein werden. Flüchtlingsströme beeinflussen nicht nur die Gesellschaft und Politik, sondern auch den Bildungssektor und stellen professionelle Fachkräfte vor unbekannte Herausforderungen.
Besonders in der Grundschule werden die Grundlagen für Bildungserfolg gelegt, weshalb der Umgang mit geflüchteten Kindern besonderer Betrachtung bedarf. Für einen traumasensiblen Umgang mit Kindern sollten Lehrkräfte Unterstützung durch Weiterbildungen und kollegiale Fallberatung erhalten. Oberstes Ziel allen pädagogischen Handelns in der Schule muss die Stabilisierung und Stärkung der Resilienz der Schüler und Schülerinnen sein, erst danach ist Wissensvermittlung vorstellbar. Schließlich sind Kinder mit Fluchterfahrung vor allem Kinder, die viel Unterstützung und Sicherheit brauchen. Die Bedürfnisse dieser zu kennen, ist eine pädagogische Aufgabe, um u.a. stabilisierende Beziehungserfahrungen und Integration zu ermöglichen. Dafür können behutsame und gezielte pädagogische Methoden in den Schulalltag eingebunden werden.
siehe auch:
Pädagogischer Umgang mit traumatisierten Kindern mit Fluchterfahrung
Es gibt keine verallgemeinernde Handlungsanleitung für den pädagogischen Umgang mit geflüchteten Kindern, da Maßnahmen stets individuell angepasst werden müssen. Folgende Aspekte sind für die Arbeit mit traumatisierten Kindern von wesentlicher Bedeutung.
Perspektiverweiterung
Für eine Pädagogik des „sicheren Ortes“ muss eine pädagogische Triade betrachtet werden, also nicht nur das Kind, sondern vor allem Pädagogen und Pädagoginnen und die Institution Schule. Lehrkräfte benötigen soziale Kompetenzen und die Fähigkeit der Selbstreflexion sowie die Bereitschaft, sich sowohl mit den Beziehungsstörungen auseinanderzusetzen als auch ein Verständnis für die Wechselwirkung äußerer Umstände und individueller Bewältigungsstrategien der Kinder zu entwickeln. Hilfreich ist hierbei die Unterstützung der Institution, welche „organisationsbezogene, reflexionsförderliche Angebote wie Supervision und kollegiale Fallberatung“ (1) anbieten sollte. Denn erst durch die eigene Reflexion, die Intravision im Team und die Supervision mithilfe professioneller Begleitung können die Bedürfnisse der Kinder verstanden werden. Lehrkräfte sollten dabei ihre eigenen Ressourcen im Blick behalten und sich bei Unsicherheiten an spezialisierte Fachkräfte wenden können.
Teilhabe und sichere Beziehungen
Kinder mit Fluchterfahrung benötigen vor allem die Möglichkeit zur Teilhabe im Schulalltag. Dieser pädagogische Auftrag zur Integration resultiert aus dem verlorenen Vertrauen des Kindes in sich und die Welt sowie dem Verlust von sozialer Teilhabe. Indem Teilhabe ermöglicht wird, kann das Kind Vertrauen und sichere Beziehungen aufbauen. In diesem Zusammenhang spielt vor allem ein strukturierter Schulalltag eine wichtige Rolle, um Verlässlichkeit herzustellen und Orientierung zu geben.
Sichere Beziehungen, ein verlässliches soziales Umfeld sowie stabile Lebensbedingungen gelten als Voraussetzung zur Bearbeitung traumatischer Erfahrungen. (2) Und genau dort sollte pädagogische Arbeit ansetzen, denn zu den traumapädagogischen Aufträgen zählt nicht die Behandlung des Traumas, sondern die Begleitung und Unterstützung der Betroffenen auf dem Weg der Eigenaktivierung und Integration des Erlebten in das Selbstbild. Dabei steht das Verstehen der Lebenswirklichkeit der Kinder im Vordergrund, um kompetent auf deren Bedürfnisse eingehen zu können. (3)
Dialog
Die Innenperspektive der Kinder zu betrachten und diese mit der Außenperspektive zu verbinden, ist entscheidend. So ist es vor allem wichtig, die Bedürfnisse wie Sicherheit, Vertrauen und Akzeptanz, von geflüchteten Kindern zu kennen. Aus diesen lassen sich traumapädagogische Aufträge ableiten. Einer davon ist der Dialog bzw. das Dialogangebot der Lehrkraft, da traumatisierte Kinder oft einen dysfunktionalen Dialog mit sich selbst, der Umwelt und dem Leben an sich durchleben. Dieser zerstörte Dialog muss rekonstruiert werden. Auch wenn Kinder dieses Angebot zu Beginn eher zögerlicher oder gar nicht annehmen, kann erst dadurch eine Bindung aufgebaut und die „Erreichbarkeit“ des Kindes hergestellt werden. Imaginationsübungen, das Arbeiten mit Bildern und deren Zuordnung zu Gefühlen oder die „Huggy-Puppy Intervention“ können genutzt werden, um den Kindern Zugang zu ihren Emotionen zu ermöglichen. Zu diesen können u.a. auch Angst, Sehnsucht, Wut, Trauer, Scham oder Einsamkeit zählen. Es ist wichtig, dass dem Kind verdeutlicht wird, dass jedes Gefühl in Ordnung ist. Die Lehrperson kann die Emotionen auch durch Bilderbücher in den Unterricht integrieren, um Raum für Gespräche zu eröffnen.
Stabilisierung
Es gibt immer wieder Situationen, die Trigger beinhalten und Auslöser für ein wiederholtes Trauma-Erleben darstellen können. Dazu zählen u.a. Geräusche, Gerüche, Berührungen oder auch Bilder und Kleidung. Bereits Hubschraubergeräusche oder die Schulklingel könnten Traumaerfahrungen wachrufen. Dies führt auch dazu, dass Kinder u.a. bestimmte Orte, Räume oder Personen vermeiden und zu Passivität neigen. In ihrem Verhalten werden diese Angst und der ausgelöste Stress oft in einem plötzlichen Erstarren sichtbar.
Grundlage für die emotional-soziale Stabilisierung sind sichere Beziehungen. Indem der Stresspegel gesenkt wird, können die betroffenen Kinder positive emotionale Erfahrungen machen und ohne Notfallreaktionen wieder handlungsfähig werden. Förderlich ist, wenn Pädagogen und Pädagoginnen dazu bereit sind, das Kind, egal aus welchem Grund, zu beruhigen und darauf zu achten, dass Stressoren reduziert werden und stressmindernde Faktoren verstärkt werden. Dabei ist der Dialog mit dem Kind und seinem Umfeld notwendig. Zusätzlich sollte den Kindern ein Rückzugsort bereitgestellt werden. Weiterhin können in den Schulalltag u.a. Übungen zur Tiefenatmung oder progressiven Muskelentspannung eingebunden werden.
Umgang in akuten „Krisensituationen“
Trotz einer intensiven pädagogischen Begleitung kann es immer wieder zu Krisensituationen kommen, die auf die traumatisierende Erfahrung und Destabilisierung zurückzuführen sind. Die Lehrkraft sollte in diesen Situationen Präsenz zeigen und versuchen, Stressoren zu entfernen und dem Kind eine Rückzugsmöglichkeit bieten. Außerdem sollte das Kind nicht allein gelassen, bestraft oder beschämt werden. Da in einer solchen Situation die Anbindung an eigene Ressourcen erschwert ist, können positive Anker diese Anbindung unterstützen, z.B. durch eine vorbereitete “Notfallkiste”. Im Zusammenhang mit akuten Krisensituationen ist eine interdisziplinäre Vernetzung mit kurzen Wegen zu Angeboten der Schulsozialarbeit, Traumaberatungsstellen und therapeutischen Anlaufstellen unbedingt erforderlich, damit betroffene Kinder professionell betreut und Lehrkräfte bestmöglich unterstützt werden können. (4)
Exemplarische Bilderbuchsammlung für den Umgang mit Gefühlen und zur Resilienzförderung bei Kindern
Trauer
- Für immer von Lüftner, Kai/ Gehrmann, Katja; Beltz & Gelberg
- Ein Ort für meine Traurigkeit von Booth, Anne/Litchfield, David; Gabriel Verlag
Angst
- „Hast du Angst?“ fragte die Maus von Schami, Rafik; Beltz & Gelberg
- Trau dich, Koalabär von Bright, Rachel; Magellon
- Der Löwe in dir von Bright, Rachel; Magellon
Wut / Zorn
- Wenn Lisa wütend ist von Janisch, Heinz/Olten, Manuela; Beltz & Gelberg
- Das kleine Wutmonster von Schwarz, Britta; Annette Betz
Sehnsucht
- Oh, wie schön ist Panama! von Janosch; Beltz & Gelberg
- Himmelskönig von Davies, Nicole; Aladin
- Kleines Nashorn, wo fährst du hin? von McKinlay, Meg; Thienemann
Anderssein/ Einsamkeit
- Ruja: Deine Freundin, die Einsamkeit von Franz, Marie; Goldblatt
- Vielleicht. Eine Geschichte über die unendlich vielen Begabungen in jedem von uns von Yamada, Kobi; adrian
- Irgendwie Anders von Cave, Kathryn/Riddel, Chris; Oetinger
Allgemein
- Der Dachs hat heute schlechte Laune von Petz, Moritz/Jackowski Amélie; NordSüd
- Heute bin ich von van Hout, Mies; aracari
- Im Garten der Pusteblume von Blanco, Noelia; Mixtvision
Im Fließtext angegebenen Quellen:
(1) Mlodoch, Karin (2017): Gewalt, Flucht – Trauma? Grundlagen und Kontroversen der psychologischen Traumaforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 18f.
(2) Vgl. Kühn, Martin / Bialek, Julia (2017): Fremd und kein Zuhause. Traumapädagogische Arbeit mit Flüchtlingskindern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S.74ff.
(3) Zimmermann, David (2016): Migration und Trauma. Pädagogisches Verstehen und Handeln in der Arbeit mit jungen Flüchtlingen. 4. Auflage. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 233.
(4) Vgl. Zimmermann 2016, S. 245; Vgl. Kühn / Bialek 2017, S. 60
Volltext der Arbeit „Traumatisierung im Kontext von Fluchterfahrungen bei Kindern“
Der Text von Sandra Michelle Heinrich entstand im Rahmen des Seminars „Heterogenität in der Grundschule im Kontext von Migration“ (Lehrauftrag: Judith Köhler) an der TU Dresden. Aufgrund der Aktualität des Themas „Traumatisierung im Kontext von Fluchterfahrungen bei Kindern“ finden Auszüge der Arbeit ihren Platz auf schulimpulse.de, um für das Thema zu sensibilisieren, einen Orientierungsrahmen für den pädagogisch bewussten Umgang mit von Fluchterfahrung geprägten traumatisierten Kindern zu bieten und auf weiterführende Literatur zu verweisen.
Die Arbeit von Sandra Michelle Heinrich beschäftigt sich mit dem Traumabegriff, der Einteilung von Traumata sowie Trauma-Folgen. Daran anknüpfend wird die Spezifik der Grundschule im Kontext von Trauma und Flucht beleuchtet. Die Arbeit schließt mit Hinweisen zum pädagogischen Umgang mit traumatisierten Kindern mit Fluchterfahrung.
Letzte Aktualisierung: 4. Februar 2024